Unendliche Welt

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Gibt es das – eine unendliche Welt? Wie würden Kosmologen diese Frage wohl beantworten? Und nur mal angenommen, Ihre Antwort wäre tatsächlich „ja“, also das Universum wäre zeitlich und räumlich unendlich, hätte das für mich eine besondere Bedeutung? Nein! Wie es um die Endlichkeit des Universums bestellt ist, das hat keine Auswirkungen auf mein alltägliches Leben. Das betrifft mich nicht, ist für mich irrelevant. Was mein Leben bestimmt, sind die alltäglichen kleinen und großen Herausforderungen, die Sorge um meine Lieben in der aktuellen Corona-Krise, aber auch die schönen Augenblicke, die Freuden, Hoffnungen und Sehnsüchte.

Ganz anders aber wäre es, wenn mein Dasein unendlich wäre. Unendlich leben, nicht sterben müssen – das will ich! Aber so ist es nun einmal nicht. Und wenn ich länger darüber nachdenke, leuchtet es mir auch ein, dass ich nicht unendlich leben kann. Wenn niemand stirbt, würde es z. B. irgendwann ziemlich eng auf der Erde. Wie wertvoll wäre mir ein Augenblick, wenn ich wüsste, dass mein Erdendasein niemals endet? Ist es nicht gerade seine Begrenztheit, die es wertvoll und schätzenswert macht? Das ist eine Form von Angebot und Nachfrage. Was knapp und begrenzt ist, steigt im Wert. Und dennoch ist diese Einsicht eher ernüchternd und wenig tröstlich. Meine Sehnsucht nach Unendlichkeit bleibt.

Vielleicht ist das ein Grund, weshalb mich ein Zitat von Edith Stein so fasziniert. Ein Glaubenszeugnis der besonderen Art, dessen Worte mir so wichtig geworden sind, dass ich sie mir, vor Jahren aus einem Zeitungsartikel ausgeschnitten, regelmäßig durchlese und über sie nachsinne:

„Es ist eine unendliche Welt, die sich ganz neu auftut, wenn man einmal anfängt, statt nach außen nach innen zu leben. Alle Realitäten, mit denen man vorher zu tun hatte, werden transparent, und die eigentlich tragenden und bewegenden Kräfte werden spürbar. Wie belanglos erscheinen die Konflikte, mit denen man vorher zu tun hatte! Und welche Fülle des Lebens mit Leiden und Seligkeiten, wie sie die irdische Welt nicht kennt und nicht begreifen kann, fasst ein einziger, nach außen fast ereignisloser Tag eines gänzlich unscheinbaren Menschendaseins!“

Ich scheue mich etwas, diese Worte zu kommentieren, geschweige denn zu erklären. Meisterhaft wie Edith Stein etwas ins Wort zu bringen vermag, wäre es so, als würde man versuchen, einer Komposition von Mozart noch Noten hinzuzufügen. Aber bedarf so ein Glaubenszeugnis überhaupt einer Erklärung? Sollte ich mich dennoch fragen, was das für eine „unendliche Welt“ ist, von der sie schreibt, und was das genau für eine Erfahrung ist, die ihr zuteil wurde, so sind diese Fragen gewiss nicht einem Formulierungsdefizit geschuldet, sondern der Eigenart des Mystischen selbst, das sich in Worten nicht oder nur unzureichend ausdrücken lässt.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein stellt in seinem berühmten „Tractatus“ fest: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische…“ und schließt mit den Worten: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Und dennoch mag es eine weitere Eigenart solch mystischer Glaubens- und Glückserfahrungen sein, dass man ein besonderes Bedürfnis hat – so unmöglich das auch sein mag -, sie in Worten auszudrücken, um andere Menschen dadurch mittelbar an ihnen teilhaben zu lassen. 

Vielleicht geht es Ihnen ja ähnlich wie mir: Die Worte von Edith Stein machen mich neugierig auf diese „unendliche Welt“, die ich auch erfahren möchte oder schon erfahren habe, und sie werfen Fragen auf: Wie lebe ich in dieser Unendlichkeit? Wie lebe ich nach innen statt nach außen? Was sind das für tragende und bewegende Kräfte, die sie gespürt hat? Und was erblicke ich, wenn ich durch die Realitäten hindurchschaue? Bereits diese Fragen führen mich weiter. Sie schärfen meine Aufmerksamkeit, mein Sensorium für diese „unendliche Welt“ und sie können mir auf Durststrecken des Glaubens eine Stärkung sein.

S.H., 5.4.2020   

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